Lioba

Lioba

 

Die späte Frühlingssonne ließ die Moos- und Grasflächen vor der Hütte in einem ganz besonders schönen Gelbgrün erleuchten. In der Stimmung des Abendlichtes sangen einige Vögel, die Menschen der Siedlung waren wieder voller Tatendrang nach dieser langen Zeit des dunklen, kalten Winters.

Dieses Jahr war der Winter im Tal nicht so streng, als die Jahre zuvor. Die Sippe hatte sich früher als all die anderen Jahre auf den Weg in die unwegsamen Wälder gemacht. Je länger die Tiere die ersten zarten Pflanzen fressen können, desto größer wird der Erlös für sie werden.

Es war der süß herbe, liebliche Geruch nach frischer Erde und nach den ersten Blumen in der Luft, den Pilgrim so liebte. Er spürte, es würde wieder ein gutes Jahr werden.

Überall in der Ansiedlung waren die Menschen bemüht, die vom Schnee und Wind über die im Winter stark gebeutelten Waldhütten mit frischen Ästen zu reparieren. Der dumpf klingende Schlag der Äxte, das Knarzen und Ächzen der Bäume, wenn sie langsam beginnen sich in eine bestimmte Richtung zu bewegen und zu fallen, und der rhythmische Ton der Sägen, die Rufe und Stimmen der Menschen, ausgelassenes Kinderlachen und das Blöcken der Schafe bildet für Pilgrim einen vertrauten Klang. Seit klein auf geht er jedes Jahr mit in den Wald.

Die letzten Jahre hatte er die Zeit im Wald immer zusammen mit Marzon, dem Heiler verbracht. Er war mit dabei, wenn Kranke geheilt wurden, oder Tiere geopfert wurden, um die Götter gnädig zu stimmen.

Vieles hatte Marzon ihm gelehrt, und er, Pilgrim war ein gelehriger Schüler. Dieses Jahr wollte ihn Marzon nicht bei sich haben, er solle sich eine eigene Hütte bauen, er sei nun alt genug.

Während Pilgrim mit den letzten Arbeiten beschäftigt war, trat Marzon vor seine Hütte. „Pilgrim, ich habe dir die letzten Jahre im Wald mein Wissen weitergegeben, jetzt ist es an der Zeit, dass du dich alleine auf den Weg machst, um in den Bergen von den Göttern die Kraft für dein künftiges Wirken als Heiler zu empfangen. Geh, und suche dein Totemtier. Wenn der Mond sich zum zweite Mal beginnt zu füllen, ist es an der Zeit für dich aufzubrechen. Bis dahin halte, dich an das, was ich dich gelehrt habe, faste, opfere und bereite deinen Körper und deinen Geist auf diesen Weg vor.“

Pilgrim war überrascht, noch nie zuvor hatte Marzon so klar zu ihm gesprochen. Er fühlte Stolz und zugleich Angst in seiner Brust aufsteigen, wie sollte er es schaffen, ganz allein sein Totemtier zu finden? Dort oben, wo so viele Gefahren lauern.

Je länger er sich innerlich auf den Weg machte, seine Gedanken durch Fasten und Opfern sammelte, desto sicherer fühlte er sich, die Strapaze auf sich zu nehmen. In Gedanken ging er den Weg bis zum ersten Opferplatz und dann den steilen Aufstieg zum Bergheiligtum, immer wieder, immer von neuem. Er wusste, er würde eine besondere Reise werden, eine Reise, die sein Leben verändern wird, er wusste, wenn er zurückkehrt wird er mit den Kräften der Götter ausgestattet sein.

Noch nie zuvor hat er so intensiv den Wechsel der Natur wahrgenommen, jeden Tag betrachtet er seine Umwelt intensiv. Er spürt die Veränderung der Natur in sich als Teil des Ganzen. Er ist ganz Natur.

Marzon ist nicht einer der ihren, aber er ist in der Sippe seit Pilgrim denken kann. Die Alten erzählen, Marzon sei über die Berge gekommen, sie achten ihn sehr, obwohl er nicht einer der Ihrigen ist.

Als an diesem Abend der Mond, zum zweiten Mal seit der Aufforderung von Marzon, als Sichel hinter dem großen Göll aufgeht, kommt wieder Marzon zu ihm an die Hütte: „Wie ich sehe, hast du dich gut vorbereitet, du bist gewappnet für den Weg zu den Göttern, es ist an der Zeit. Hier hab ich einen Schutz für dich in diesem Beutel eingenäht, er wird dich bewahren und dir Kraft verleihen für alles was kommen wird. Hier noch einen Ranft als Wegzehrung für den Aufstieg. Wenn du wieder kommst wirst du ein Anderer sein, du wirst einmal meine Stelle einnehmen in unserer Sippe. Nimm dir die Zeit der Stille und finde dein Totemtier. Ich wünsche dir Kraft und Glück auf deinem Weg und eine gute Heimkehr, wir warten auf dich, aber nur du kennst den Zeitpunkt der Rückkehr. Du wirst ihn bestimmen.“ Er schloss ihn noch einmal in seine Arme und ging wortlos zurück.

Am nächsten Morgen begann er seine Reise zu den Göttern, schwer bepackt machte er sich früh morgens noch vor Sonnenaufgang auf den Weg. Alle schliefen noch. Den Weg zum See kannte er sehr gut.

Die Pfade sind ihm vertraut, er spürt die taunassen Pflanzen, riecht den Moderduft der mit Pilzen und Flechten überzogenen alten Baumriesen. Erste Nebelschwaden durchziehen den feuchten Wald, ein Zeichen des Sees den er bald erreichen wird. Während er seinen Weg beginnt, begleiten ihn tausende Vogelstimmen des Morgens. Sie begrüßen den neuen Tag. Jeder Ton trägt ihn und nimmt ihn mit in eine völlig andere Welt.

Als er den See erreicht, sieht er einen schönen alten Balder mit seinem prächtigen Geweih. Der Hirsch wendet ihm majestätisch seinen Kopf zu. Das Tier verharrt einen Moment regungslos, dreht dann und zieht würdevoll in den Wald.

Um diese Jahreszeit sind die Jäger noch nicht zur Hirschjagd aufgebrochen, noch haben die Tiere Scheu nicht verloren. Für Pilgrim war der Balder heilig, es war ein gutes Zeichen für den Beginn seines Weges.

Mit großer Kraft zieht er einen Einbaum ins kalte Wasser. Nebel wabern über den See. Er sticht in See, die pfeilförmigen Bugwellen breiten sich lautlos über den glatten See.

So früh am Morgen wirken die hohen Felswände noch dunkler, noch beängstigender wie sonst. Völlig gedankenversunken rudert er hinaus auf den weiten langen See. Umrahmt von den riesigen Bergen wird ihm seine Vergänglichkeit bewusst.

Seine Gedanken kreisen zurück zu seinem Ausgangspunkt. Seit seiner Kindheit zieht er mit den Wanderhirten jedes Jahr in den Wald. Hier finden die Tiere genügend zu fressen, hier lässt man sie ihr Leben leben. Kein Herr interessierte sich dafür, ob sie Freie oder Unfreie waren.

In seinem inneren Auge nimmt er Virgil mit seiner rau krächzenden, lauten und unverständlich stammelnden Worten wahr. Sein unförmiger runder Kopf, seine weit auseinander liegenden Augen und sein großer Buckel machen ihn oft zum Gespött der Leute, aber hier im Wald konnte er eine kleine Herde beaufsichtigen und er erhielt Essen. Er sah Virgils große Augen und seinen lachenden Mund, er wollte ihm etwas sagen, aber Pilgrim konnte es nicht verstehen. Das Gesicht entschwand ihm.

Es war als wollte Virgil ihm etwas Wichtiges mitteilen, aber er konnte ihn nicht verstehen.

Marzon hat ihm in den letzten Jahren all sein Wissen der Altväter weitergegeben. Er sollte es weitertragen und vervollständigen.

Während er so gedankenversunken ruderte, wurde die Landzunge sichtbar, von wo aus der Weg ihn weiter zum oberen Bergheiligtum führen wird. Mit einem dunklen, dumpfen Laut legt das Boot an Land an.

Bevor er zu seiner Reise aufbricht, pflückt er noch einige Blumen, die am Wegesrand wachsen. Er geht mit ihnen zum Steinkreis, ganz außen auf der Landzunge, es ist jener Punkt, der einen letzten Blick freigibt auf die gewohnte Umgebung der Berge, ganz weit hinten.

Es ist die Stelle, die die Hirten aufsuchen, bevor sie mit ihren Tieren in die Einsamkeit der Berge aufbrechen. Es ist der Ort, an dem sie feierten, wenn ihre Jäger wieder einen Bären getötet haben, der ihre Schafe gerissen hatte. Er erinnert sich an die Sonnwendfeuer oben am Feuerpalfen, er sieht plötzlich die züngelnden Flammen, hört das Lodern des Feuers und völlig unerwartet wird er Virgil wieder gewahr, wieder seine großen Augen, der zum Schrei aufgerissene Mund und wieder konnte e nichts verstehen. Er weiß nicht, was dieses Bild zu bedeuten hatte. War er in Gefahr, oder war es Vergil der ihn brauchte?

Er bittet die Götter um ihren Schutz vor wilden Tieren und begibt sich dann auf seinen Weg zum Bergheiligtum oben am See.

Der Aufstieg erscheint ihm beschwerlicher als sonst. Oftmals nimmt er das dumpfe Pochen seines Herzens an seiner Schläfe wahr. Wolken ziehen auf, der Himmel bedeckt sich, es kühlt merklich ab.

Wieder und wieder muss er den Weg suchen, hier ist der Maulwurfhügel, dort der Finkenkopf weiter hinten sieht er den großen Steinmann, er ist auf dem richtigen Weg, er fasst wieder neuen Mut.

Sein Sack hängt am Stock und die Last drückt schwer auf seine Schulter.

Gestützt auf den Wanderstab steigt er den steilen Weg nach oben. Er kennt den Weg, den tosenden Wasserfall. Oberhalb der Wasserkaskade überquert er den reisenden Bach auf einem umgestürzten Baum. Wie von unsichtbarer Hand gezogen nimmt unter ihm das Wasser scheinbar an Geschwindigkeit zu, um ein paar Meter weiter in die Tiefe zu stürzen.

Als das andere Ufer erreicht ist, atmet er erleichtert auf. Für ihn ist es eine der gefährlichsten Stellen des Weges. Der Weg führt ihn weiter nach oben, es ist inzwischen still geworden im Wald, es pfeift kein Vogel mehr, es ist fast drückend, es ist kalt, die Wolken hängen tief.

Wenig später eröffnet sich ihm diese liebliche Felsenlandschaft, die ihn wegen der bizarren Formen so fasziniert. Jeder Fels kann dort seine eigene Geschichte erzählen.

An der großen Senke weitet sich die Landschaft, ein sehr steiler Aufstieg steht ihm jetzt bevor. Vorher macht er eine kurze Rast um sich zu stärken und seine Kräfte zu sammeln.

Die Sonne kommt durch die Wolken und verwandelt den finsteren Wald plötzlich in eine liebliche Landschaft, Gerüche entfalten sich. Ein Wunder geschieht. Er zieht die Sonne in sich auf, es ist still, außer den Vögel im Rund, die wieder zu neuem Leben erwacht sind.

Er trinkt aus seinem Beutel Wasser, es tut so gut.

Er merkt die Einsamkeit, und spürt Angst in sich hochkommen. Links und rechts neben ihm stehen dunkle hohe und senkrechte Felswände, es gilt nun aufzusteigen, dort wird er niemanden mehr treffe. Wenn ihm hier etwas passiert kann ihm keiner helfen. Mühsam, in unendlich erscheinender Kraftanstrengung schleppt er sich hoch. Oben muss er ein weites Schneefeld überqueren, es ist immer noch früh im Jahr. Von hier oben hat er einen letzten Blick zurück auf den Berg, wo sie immer an Sonnwend die Feuer entzünden. Weiter hinten weiß er die Stelle, wo tief unten für ihn jetzt, aber nicht sichtbar sein Dorf liegt. Er weiß, dass er es für längere Zeit nicht mehr sehen wird.

Hier oben ist die Natur viel weiter zurück wie unten im Tal, hier beginnt gerade der Frühling.

Nach dem steilen Aufstieg, zwischen den zwei Felswänden, empfindet er die kleine sich weitende Senke als unsagbar schön und befreiend. Er setzt sich ins Gras, schaut den Schmetterlingen und Bienen zu, die ihre Arbeit tun. Er lässt sich ansprechen von den Pflanzen, sie sagen ihm wofür sie helfen. Er hält es so, wie es Marzon ihm gelehrt hatte.

Die Wolken ziehen vorbei, weiß, grau, in den verschiedensten sich immer wieder verändernden Formen. Er versucht ihre Zeichen zu verstehen. Er sieht viele Bilder kommen und gehen. Wieder völlig unvermittelt, unerwartet erscheint wieder Virgil der Tölpel, klar nimmt er ihn in seinem Innern wahr, wieder seien Augen und der zum Schrei geöffnete Mund. Er glaubt ihn zu hören wie er laut vernehmlich „Weib!“ schreit, danach zerfließt das Bild und er ist wieder im hier und jetzt.

Er bricht wieder auf, geht das Geröllfeld wieder weiter nach oben, er geht die alten Tierpfade, Tierwechsel. Die Tiere sind seine Brüder, immer wieder sieht er welche stehen. Sie zeigen ihm den Weg nach oben. Ganz oben wird der Pfad noch beschwerlicher, Schnee vom letzten Jahr hat sich in der Grube gesammelt.

Für einen Moment erschrickt er, er sieht auf dem Weg den Abdruck von Bärentatzen. Er weiß genau, wie gefährlich eine Begegnung mit diesen Tieren werden kann.

Er rutscht im Schnee beim Aufwärtsgehen, muss nun den Halt sich erkämpfen, er ermüdet schnell, diesmal fällt ihm der Weg schwerer als sonst. Er fühlt sich matt, kraftlos. Er hat das Gefühl, eine bevorstehende Erkrankung würde sich zeigen. Noch hat er nicht die Ritten, das Zittern, die heiße Haut, noch kann er gehen, er weiß, was es bedeutet, wenn er jetzt nicht mehr weiter geht, wenn er jetzt erkrankt. Hier oben ist er allein, niemand würde ihm beistehen.

Er macht Pausen und er bewegt sich weiter durch das Labyrinth der Steine ohne Wiederkehr, wie sie die Leute im Wald unten nennen. Sie sind es in der Tat für den unkundigen, den nicht eingeweihten. Er kennt aber die Zeichen, nach denen er sich richten kann.

Er merkt wie es diesmal anders ist wie sonst., vielleicht legt sich der Alp schon auf seine Brust. Er bekommt Angst, die Sonne neigt sich schon, es ist still, unheimlich still.

Die Sonne verschwindet wieder hinter einer Wolkenwand. Es zieht sich hinter den Felsen eine graue Wand zusammen, es kühlt ab, seine Hände frieren. An einem mit Ritzzeichnungen versehenen Opferstein legt er eine Hand voll getrockneter Beeren hinein, für eine gute Heimkehr.

Ihn beschleicht plötzlich ein unerklärbare Traurigkeit, die Landschaft ist wie verändert, alles wirkt so dunkel.

Er ist erfüllt von einer unerklärlichen Traurigkeit. Sein sonst so fröhliches Wesen hat sich verändert, wie eine unbekannte schwere Last drückt es auf ihn. Er kann sich diesen Wandel nicht erklären

Er wandert weiter und kommt an einen abschüssigen Weg, um eine Wegbiegung sieht er den See, welche Erleichterung macht sich in ihm breit.

Der Himmel öffnet sich wieder, das Abendrot taucht die Felswände rings um den See in wunderschön leuchtendes Braunrot

Der See liegt ganz ruhig, unten in der Talsenke, in der Wasseroberfläche spiegelt sich das Bergrund. Langsam verschwindet auch der letzte Sonnenstrahl, die ersten Vorboten der Nacht erscheinen, es dämmert.

Im näheren Umkreis sucht er trockene Äste für ein Feuer, um seinen ausgekühlten Körper zu wärmen. Das Feuer ist für ihn lebenswichtig, um Kräfte zu sammeln und um sich vor den Wölfen zu schützen, die wieder durch die Wälder streifen. Er hatte beim Aufstieg ihre Fährte gesehen.

Lange dreht er mit den Händen das Feuerholz, bis endlich der Baumschwamm glimmt und Feuer fängt. Das Feuer will schlecht brennen, es raucht stark. Der Wind treibt ihm den beißenden Rauch in seine Augen, er hustet. Aber das Feuer ist die Sonne der Nacht für ihn, er spürt die wohlige Wärme auf der Vorderseite, und die Kälte der Nacht in seinem Rücken, er nimmt den Rauch gerne in Kauf.

Langsam kommt die Feuchtigkeit der Nacht., er sieht die Sterne die über ihm hell und klar zu funkeln beginnen. Erst einer, dann immer mehr, bis es unzählige Lichtpunkte sind, die sich über ihm erstrecken. Ein Käuzchen ruft. Er hört den Wolf ferne heulen. Ist er ihm auf der Spur?

Er verkriecht sich unter einem Felsvorsprung, um geschützt zu sein vor dem Wetter, falls es sich in der Nacht unhörbar anschleicht.

Die Mächte der Dunkelheit ergreifen ihn, nehmen Besitz von ihm, von seinem Herzen, er schläft ein. Im Traum begegnet ihm wieder Virgil, er kommt schlürfenden Schrittes auf ihn zu, nimmt ihn bei der Hand „mitkomma, zum Weib, mitkomma zum Weib!“ er weigert sich dem Tölpel zu folgen, er greift aber fest zu und zerrt ihn mit nach oben. Pilgrim erwacht erschreckt. Er legt wieder etwas Holz auf die Glut und schläft im Schein des flackernden Feuers wieder ein.

Die Kälte weckt ihn, bevor die Sonne über die Berge kommt. Es ist morgen. Noch etwas benommen vom Schlaf und gedankenversunken vom Traum der heutigen Nacht schürt er ein Letztes mal das Feuer an, um sich aufzuwärmen. Als er völlig wach ist, macht er sich auf zum Opfer am Bergheiligtum. Ein Steinkreis bildet einen spirituellen Raum, einen Hain, den er betritt. Dort vollzieht er die Riten seiner Ahnen. Danach geht er gestärkt zurück zum Lagerplatz.

Er holt ein Stück Brot, kaut es, unten am See trinkt er einen Schluck kalten Wassers, er fühlt sich völlig ausgekühlt, er zittert, er fühlt sich schlecht, krank, trotzdem möchte er heute dem Weg folgen, der ihn schon seit langem reizt, er will weiter hoch, dort wo noch keiner von ihnen war. Vielleicht gibt es dort einen Kraftort, der seine ganze Sippe beschützen kann. Die Leute im Dorf haben mal erzählt, Marzon sei über diese Berge gekommen, vielleicht findet er dort seine Bestimmung.

Als die Sonne mit all ihrer Kraft und Schönheit über den Berg kommt und ihm seinen Rücken wärmt, fühlt er sich wieder gestärkt seinen mühseligen Weg fortzusetzen, bergan zu steigen. Schwer bepackt geht er weiter.

Ein Balder tritt aus dem Wald auf die Lichtung, für ihn scheint es ein gutes Zeichen.

Er spürt jeden Schritt, wie benommen schleppt er sich bergan. Der Aufstieg fällt ihm heute noch schwerer als gestern. Er hat den Eindruck, die Geister beginnen an ihm zu ziehen und zu zerren, wollen ihn nicht in ihr Reich lassen. Er spürt schon den Griff um seinen Leib, er kann nur noch schwer atmen.

Die Landschaft verändert sich für ihn, er sieht Gestalten auf sich zukommen, er hat Angst. Sind es die Watze die ihn holen kommen?

Fest hält er das Amulett aus Knochen in seinen Händen, das ihm Marzon mit auf den Weg gegeben hat, er weiß, es hilft gegen die wilden Gesellen, Laurin wird ihn nicht in sein Reich holen kommen. Mit dem Zeichen hat er Macht über sie. Seine Zwerge werden ihn nicht zu sich in den Berg ziehen können.

Er überwindet so seine Angst und dringt weiter in eine ihm völlig unbekannte Welt. Er durchschreitet eine Senke wo sich Murmeltiere tummeln, er hört ihren schrillen warnenden Pfiff.

Er nimmt die Umgebung nicht mehr wahr. Ihm wird heiß, er hat das Gefühl sich zu drehen. Plötzlich hört er hinter sich einen Pfiff, er dreht sich und sieht ein weißes Murmeltier. Er erschrickt, das war für ihn ein besonderes Zeichen. Es ist sein Totemtier, er fühlt es, er weiß es genau. Jetzt geht nichts mehr schief. Er wusste, er ist nun auf dem richtigen Weg. Gestärkt durch dieses Erlebnis setzt er seinen Weg fort. Berggeister sprechen zu ihm in den Fieberphantasien. Traum und Realität beginnen zu verschmelzen. Er stürzt und wieder ist es Virgil, der sich verrückt laut lachend über ihn beugt.

* * *

Der Tag begann mit einem großartigen Sonnenaufgang. Für sie ist es immer wieder ein neues Geschenk ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen.

Die Sonne steht hoch am Himmel, die Wärme bringt die Pflanzen zum Wachsen, die Tiere ziehen wieder auf Nahrungssuche durch das Unterholz.

Nach dem langen Winter schätzen sie es sehr, frisches Gras und Waldpflanzen aufzunehmen.

Lioba, schaut ihnen beim Grasen zu. Sie ist froh, dass sich das Wetter gebessert hat, zu lange dauerte der Winter heuer hier oben, noch ein paar Wochen länger und ihr wäre das Futter für ihre Tiere ausgegangen, sie hatte Glück gehabt. Es hätte auch anders enden können, wie lange wird sie das noch durchhalten, wie lange ihre Kraft reichen? Es war heuer schon der dritte Winter in der Einöde.

Ihre Tiere treibt sie nach einiger Zeit wieder zurück in den Pferch, noch war der Winter hier oben nicht ganz vorbei, sie wollte vorsichtig sein und keines der Tiere verlieren. Nachdem sie die Tiere verwahrt hat, geht sie auf die Suche nach Heilkräutern, die sich an die Leute von Salafelda verkaufen lassen. Keiner unten im Tal kennt die Wirkung der Pflanzen so gut wie sie. Ihr Wissen wird von den Siedlern unten im Tal sehr geschätzt.

Knarzend öffnet sie die rußgeschwärzte Holzbalkentüre ihrer Hütte und holt ihre Ledertasche. Mit ihr geht sie immer zum Kräutersammeln. Sie hatte das Wissen ihres Adoptivvaters mitbekommen.

Sie macht sich auf den Weg nach unten, wo die Pflanzen schon weiter waren, wo die warme Luft den Kräutern schon eher die Kraft des Lebens zurückgegeben hat. Vorsichtig ging sie den schmalen Pfad nach unten. Seit der Zeit, seit der sie sich entschlossen hat, hier heroben zu leben, wusste sie hier oben muss jeder Schritt richtig sein. Niemand kann ihr helfen. Sie ist auf sich gestellt.

Als der Weg um einen Felsvorsprung führt, sieht sie plötzlich einen länglichen Fellhaufen, ein verendetes Tier. Als sie näherkommt, erkennt sie dahinter einen Menschen, der regungslos am Boden gekauert, war er tot? Vorsichtig tritt sie näher, sie blickt sich um, ob er alleine ist. Sie sah den kalten Schweiß auf seiner Stirn, er hatte die Augen geschlossen, atmete schwer. Sie berührt ihn, und sie erschrickt, er war ganz heiß. Sie musste jetzt schnell handeln.

Sie ergriff den Arm, legte ihn sich über ihren Nacken und versuchte ihn schleppend und ziehend den Weg nach oben zu bringen, zurück zur Hütte. Er kam ihr unendlich schwer vor, aber sie wusste, lässt sie ihn liegen ist es sein Tod.

Sie legt ihn auf ihr Lager aus alten Flechten, Moos, Heu und Reisig, darüber eine Schafdecke. Sie geht nochmals den Weg zurück um seinen Bund zu holen, er wird ihn sicher brauchen, wenn er seine Krankheit übersteht.

Geschickt entfacht sie an der offenen Feuerstelle mit der restlichen Glut ein kleines Feuer.

Sie kocht dem fremden Mann einen Sud aus den getrockneten Lindenblüten, die sie letzten Sommer unten im Dorf gesammelt hat und gibt ihm zu trinken.

In der Nähe Ihrer Hütte hat sie eine Steinkuhle, die sie von Zeit zu Zeit als Waschwanne nutzt. Sie holt von der Quelle Wasser, füllt es in die Felsenkuhle. Daneben macht sie ein Feuer und wirft große Steine in die Glut und wartet bis sie fast glühen, dann rollt sie mit einem großen Ast die Steinbrocken in das kalte Quellwasser und erhitzt es so. Sie bereitet ihrem fremden Gast ein Heilbad. Auf dem Felsen schlägt sie Latschenzweige damit die Nadeln aufbrechen und ihren Duft freigeben. Die Latschennadeln und das Heu vom letzten Jahr gibt sie in das heiße Wasser.

Das heiße Heu holt sie in einem Korb ins Haus und legt es auf die Haut des Fremden. Deckt ihn mit Decken und Fellen zu. Das Heu entfaltet nun die Kraft der Sonne, die es übers Jahr gesammelt hat. Er beginnt zu schwitzen.

Sie legt ihm die Hände auf sein Haupt, schließt die Augen und betet. Sie bittet Gott, seine Kraft solle in den jungen Körper zurückkehren. Sie spürt ein Kribbeln in Ihren Handflächen und sie ist sich sicher, dass er wieder auf die Beine kommt.

Nach einiger Zeit holt sie eine Schafwolldecke, entfernt das Heu und wickelt ihn erneut ein, für einen Moment betrachtet sie ganz versunken seinen schönen jungen Körper. Wie lange war es her, dass sie in den Armen eines Mannes lag?

Sie pflegt ihn, kocht ihm eine einfache Suppe mit Wasser, geriebener Gerste vom Tal und Salz. Während sie über dem Feuer hantiert erwacht er. „Bist du die Schicksalsfrau?“ Sie lacht! „Bist du eine Trud? Was ist mit mir geschehn?“ „Nein ich bin keine Schicksalsfrau, kein Trud, ich leb hier in der Einsamkeit, weil ich die Nähe der Leut nicht ertrag, ihre Falschheit. Wie heißt du?“ „Pilgrim nennt man mich.“ „Ich bin die Lioba. Für Frauen wie mich wird bald kein Platz mehr sein. Jetzt ruh dich aus und schlaf eine Weile du kannst es brauchen!“

Nach einer Woche hat sich Pilgrims Zustand wieder gebessert.

Lioba ist eine stille weiße Frau. Nach seiner Genesung führt sie Pilgrim ein in ihre Gedankenwelt. Spricht von ihrem Glauben, ihren Gefühlen und ihren Erlebnissen, lehrt ihm ihr Wissen.

Auch Pilgrim öffnet sich ihr, er erzählt ihr vom Dorf, von Marzon, den Heiler, der über die Berge kam und von seinen Traumgesichtern.

Lioba erklärt ihm seinen Traum. „Virgil schreit im Traum nach mir, ich werd dir sagen, was du tun sollst. Hol ihn zu dir und kümmere dich um ihn. Er ist dein Bruder wie ich deine Schwester. Hilf ihm und steh ihm bei, er hat es schwer genug.“

Übers Jahr sucht sie auf ihren Wegen durch die Berge nach Mineralien, die die Leute unten im Dorf sehr schätzen. Jedes Jahr findet sie schöne Exemplare, die gerne gekauft werden. Sie kennt die Heilkräfte der Berge, und lässt sich von den Pflanzen ansprechen.

Sie erzählt ihm auf den langen Wanderungen durch den Hochwald, von Javavum der verfallenen Stadt, von dem letzten Romanen der dort Heiler war. Er hat ihr sein Wissen weitergegeben, hat sie eingeweiht in die Geheimnisse der Natur.

Und sie erzählt von seinem gewaltsamen Tod von Menschen, die Angst vor allem haben und dadurch missbraucht werden.

Sie führt ihn herum auf dem bewaldeten Hochplateau, sie zeigt ihm, dass hier oben früher ein Meer war, sie kennt die Stellen, wo die Muscheln offen liegen. Die Kuhtritte, wie die Unfreien unten sagen. Sie zeigt ihm die andere Seite des Bergrückens, er lernt eine völlig neue Welt kennen. Er kriegt das Gespür für die fast grenzenlose Weite der Berge. Sie zeigt ihm ihr Bergheiligtum kurz vor dem Übergang nach Salafelda. Er erschrickt furchtbar als er ein Kreuz sieht, an dem ein Toter ist, sie aber versteht einfühlsam von Jesus zu erzählen, er beginnt zu verstehen. Nach einem kurzen Anstieg über den Bergscheitel sieht er erstmals die Waldtäler unten, und die wenigen Häuser Dorf. Er staunt.

„Schaug, da unten ham´s wieder eine Fläche neu gerodet für den Salzabbau. Wenn die so weitermachen werden sie eines Tages hier heroben auch noch abholzen, dann wird sich alles ändern. Wenn der Wald verschwindet, verschwinden die Tiere zuerst, dann die Erde bis nur noch der Fels zurück bleibt, alles wird nur noch eine Steinwüste sein.“ Sie sagte das sehr ernst. Pilgrim verstand, sie war eine weiße Frau.

Bevor der neue Schnee wieder fällt, ist die Zeit des Abschiednehmens, nach den Wochen der Zweisamkeit kommt für Lioba die Zeit der Stille. Er bedankt sich bei ihr, und verspricht im nächsten Jahr wiederzukommen. Er hält sie fest im Arm, er küsst sie und wendet sich um. Es fällt ein wenig Schnee, es ist höchste Zeit zu gehen.

Er steigt wieder hinunter, in das Tal wo er Anfang des Jahres herkam. Am unteren Bergheiligtum bringt er einen Strauß Blumen als Opfer dar, für seine Rettung.

Auf der unter Hochfläche macht er eine Rast, der Bergwald hat schon begonnen sich rötlich zu färben. Es wird nicht mehr lange dauern bis der erste Schnee bis ins Tal kommt, es ist kalt.

Der erste Mensch, der ihm auf dem Heimweg begegnet, ist Virgil. Virgil schreit laut auf und kommt stolpernd mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu, umarmt und küsst ihn, er ist völlig aus dem Häuschen. „Pilgrim widda da, Virgil mit Pilgirm geht!“ „Ja Virgil, du kommst jetzt zu mir, ich werde für dich sorgen."

Als er zurück, kommt ist das ganze Dorf auf den Beinen, einige hatten nicht mehr an seine Rückkehr geglaubt. Sie freuen sich mit ihm über die glückliche Heimkehr und feiern mit ihm ein Fest. Marzon ist stolz auf seinen Schüler, er hat einen würdigen Nachfolger in ihm gefunden.

* * *

Im nächsten Jahr kurz nach der Schneeschmelze steigt er wieder hinauf, er muss noch einmal mit Lioba sprechen. Viele Fragen hat er noch offen.

Als er diesmal wieder das Hochplateau erreicht, sieht er noch große Reste des letzten Schnees, es muss wohl ein starker Winter gewesen sein.

Als er um die Wegbiegung geht erblickt er die Hütte. Das Dach ist eingedrückt. Ein eigenartiges Gefühl beschleicht ihn. Wie geht es Lioba? Der Kamin raucht nicht.

Er beginnt zu laufen, er sinkt tief ein, kommt kaum vorwärts, es nimmt ihm fast den Atem. Schnee liegt in der Hütte, alles ist zerstört. Er beginnt mit den Händen zu graben. Auf dem Lager findet er ihren toten Körper. Die Kälte hat ihn erhalten. Pilgrim weint.

Eine Nacht hält er bei ihr Wache. Mit einer Schaufel beginnt er ein Grab zu schaufeln, aber der Boden ist noch fest gefroren. Daraufhin trägt er den Leichnam in eine Felsspalte, legt sie behutsam dort ab, bestattet sie in seinem Ritus, zum Schluss spricht er noch ein Gebet, das sie ihm von ihrer Religion gelernt hatte und deckt ihren toten Körper mit Steinen zu. Traurig macht er sich auf den Rückweg.

Im Laufen merkt er, dass das Leben weitergeht. Er gehört in sein Dorf, dort brauchen sie ihn, dort brauchen sie sein Wissen um die Krankheiten, um das Wetter, um den Weg der Natur, dort braucht ihn Virgil.

Er hat einen Menschen zurückgelassen, den er nur ganz kurz gekannt hat, der ihm aber unsäglich viel geschenkt hat, sie wird in ihm weiter leben.

 

Nachwort:

Die Geschichte spielt im ausgehenden 8. Jahrhundert. Der Schauplatz auf dem Hochplateau ist das heutige Steinerne Meer zwischen Berchtesgaden und Saalfelden. Damals war die Fläche des Steinernen Meeres noch bewaldet und völlig unberührt. 1000 Jahre später stellt ein Besucher der dortigen Schafhirten im Jahre 1852 fest: „Man muußte fürchterlich wirthschaften, bis man, wie die Wurzelstöcke zeigen, diese weite Alpengegend ihrer ungeheuren Baumstämme berauben konnte; doch die Holzvertilgungskriege dieses Ländchens sind zu geschichtlich bekannt, um als neu betrauert zu werden. Itzt wäre es vergebens, selbst mit größter Anstrenung hier wieder Wälder bezwecken zu wollen, weil der herabdringende Schnee und Windsturm jedes Fleckchen Erdreich zum Samenempfang längst wegspülte.“

Das Steinerne Meer zählt so wie ich es heute kenne zu einer der schönsten Gegenden, die ich kenne und trotzdem berührt es einen schmerzvoll, wenn man sich vorstellt auf dieser Steinwüste wuchsen einmal Wälder.

Nirgendwo wurde mir die Veränderung unserer Umwelt durch uns Menschen bewusster.

 

Gerd J. Wunderer