Venet

Venet

 

Es ist Neumond; die Gebirgslandschaft ist ganz in Schwarz gehüllt. Nur mit verschiedenen dunklen Nuancen unterscheiden sich die Berge - darüber der sternenbedeckte Himmel. Der See liegt still da, es rührt sich kein Laut. Ein ächzender, schriller Ton zerreißt in diesem Augenblick die Stille. Nach kurzer Pause ertönt nochmals dieser fast warnend, klagende Ton. Danach ist wieder Stille. Jetzt erklingen dumpfe Trommelschläge durch die Nacht, sie verlieren sich in der Dunkelheit. Aus dem Talgrund taucht eine Prozession auf. Voran gehen zwei Fahnenträger, sie werden begleitet von sechs Lurenspieler, ihnen folgen ebenso viele Trommler. Wieder führen die Musiker diese langen, mannshohen, gewundenen alten bronzenen Blasinstrumente zum Mund, wieder durchdringt der ohrenbetäubende, blecherne Klang aus diesen Hörnern die Stille. Das Dunkel wird erhellt von Fackelträgern. in wiegendem gleichförmigen Schritt tragen sechs in schwarze Kutten gehüllte Menschen einen Toten zum Ufer des Sees. Dem Toten folgt ein langer Trauerzug.

Am See angekommen säumen die Fackelträger das Ufer. Die Fackeln erleuchten es nur spärlich, unter Trommelschlag und Lurenklang wird der Tote von den Trägern auf ein am Ufer liegendes Boot gebracht. Die Bahre findet im Boot auf einem großen geschichteten Holzsteig Platz.

Der Leichnam ist in das Fell eines frisch geschlachteten Rindes eingeschlagen und verschnürt. Knechte bringen eine Trommel, Messer, Pfeile und Bogen, sowie verschiedenen Schmuck und belegen damit die Oberfläche seines Körpers.

In jedem Boot wird an der Seite eine Birkenharzfackel entzündet. Der Fährmann besteigt das Totenschiff und wartet, bis alle in die Boote gestiegen sind. Jetzt hebt er an zu rudern und setzt seine Ruderschläge mit bedacht. Wieder ertönen die Luren, sie klingen noch gewaltiger als vorher. Die hohen Felswände werfen das Echo zurück, es dauert geraume Zeit, bis das Ohr wieder die Stille wahrnimmt.

Unberührt davon tut der Fährmann seine Arbeit. Nacheinander folgen ihm die Boote lautlos durch das Wasser. Sie begleiten ihren geistigen Führer auf seiner letzten Fahrt. Er war ihnen Wegbegleiter und ein guter Heiler in einer Zeit des Umbruchs, in einer Zeit, in der die althergebrachten Werte nichts mehr zählen. Er wusste, was zu tun war, wenn der Winter zu lang und der Sommer zu nass war, er kannte die geheimen Sprüche und verstand die Zeichen in den Bergen. Er war da, wenn ihre Tiere oder sie selber krank waren.

Neue religiöse Vorstellungen aber machen sich inzwischen breit. Einige aus ihrem Dorf sind schon nicht mehr dabei. Das Althergebrachte wird mehr und mehr infrage gestellt. Trotzdem halten sie an der Tradition fest. Sie ziehen zum See und bestatten ihren Priester so, wie er es ihnen gelehrt hatte.

In einer langen Reihe leuchten, Schiff für Schiff, die Fackeln über den See. Während der Überfahrt wechseln sich Stille mit dem rhythmischen Klang der Trommeln und den schmetternden Einsätzen der Luren ab. Sie fahren entlang den steilen Felswänden bis fast an das hintere Ende des Sees. Der Fährmann lässt nun das Boot ausgleiten. Der Kahn treibt noch ein wenig, dann verschwindet auch die letzte Bugwelle. Die ersten beiden Schiffe der Prozession beschleunigen den Ruderschlag und kommen auf das Totenschiff zu. Der inzwischen schon fast ohrenbetäubende Klang der Luren und Trommeln kommt immer näher.

Es dauert eine Weile bis die beiden folgenden Boote links und rechts neben dem Kahn angelegt haben. Der neue Schamane, bekleidet mit einem langen weißen Gewand, entsteigt dem Boot der Musiker. Er trägt eine mit Federn besetzte Rinderkopfmaske. Jetzt betritt er bedächtig und würdevoll das Totenschiff. Der Fährmann erhält eine rituelle Waschung und darf daraufhin das gegenüberliegende Schiff betreten. Sobald er Platz genommen hat, legt der Kahn ab und reiht sich ein in den Kreis der Boote, die sich inzwischen in einem weiten Rund um das Totenschiff gesammelt haben. Nur die Harzfackeln zeigen die Position der Schiffe in der Nacht.

Die Luren und Trommeln haben ihre kultische Musik beendet. Der Schamane übergibt die Totengeschenke dem Wasser. Er öffnet den Sarg aus Rinderhaut, hebt seine beiden Hände empor und beginnt seine religiöse Zeremonie. Über den See schallt seine raue Stimme mit den unverständlichen mystischen Versen, die dem Toten die Heimkehr in das ewige Reich erleichtern sollen. Seine monotonen Gesänge brechen ab, er salbt den Körper des Toten mit Rinderbutter und verlässt daraufhin das Totenschiff. Das Schiff der Bläser legt ab und rudert etwas vom Totenschiff weg.

Ein Schütze am Bug nimmt einen brennenden Pfeil, spannt seinen Bogen, zielt, und lässt den surrenden Pfeil in einer hellen rotgelben Lichtspur in seichtem Rund sicher auf das Totenschiff fliegen. Dort suchen sich in Windeseile die Flammen ihren Weg. Der Holzstapel entzündet sich, wird zu einem großen Feuer, das den Leichnam verzehrt. Das Prasseln ist bis zu den Booten zu hören.

Derweil kehrt der Schamane in den Kreis der Boote zurück. Hohe Flammen lodern empor. Nach und nach erfassen sie das gesamte Boot. Eine riesige große Flamme loht geh´n Himmel und verzehrt den toten Körper. In ihrem Glauben wird so seine Seele frei für die Reise zu den Ahnen. Langsam erlischt das Feuer, es wird kleiner, weißlicher Rauch steigt auf. Das Feuer hatte nur kurz die Herrschaft über die Nacht. Das Wasser löscht den verbleibenden Rest, ein langgezogenes Zischen ist vernehmbar, als das glühende Holz das Wasser kurze Zeit zum Sieden bringt, dann eine weiße Rauchwolke, danach ist es wieder dunkel und totenstill, nur die Fackeln der Boote sieht man im Rund. Diese Menschen hier haben ihren Priester heimgebracht. Die Wassergottheit hat ihn wieder zu sich genommen. Der Nachfolger des Schamanen wird am nächsten Morgen auf unsicheren Wegen in die Berge steigen. Er wird dort mehrere Tage fastend in der Einsamkeit verbringen und über Zeichen, die er in den Felsen ritzen wird und über Trance und Gesang eine lange Reise in das Reich der Toten antreten. Dort wird er letzte Weisungen des Verstorbenen empfangen.

Ohne Laut kommen die Schiffe fast gleichzeitig wieder in Bewegung, sie gleiten ruhig zurück. Die Bugwellen streifen den Brandplatz im Wasser, wo verkohlte Holzteile des Bootes dümpeln. Nichts sonst erinnert an die heutige Nacht. Was bleibt, ist die glatte Wasseroberfläche des Sees.

Die Lichter der zurückfahrenden Boote verschwinden eins ums andere hinter einer Biegung der Felsen dieses langgezogenen Sees. Es ist wieder alles so, als ob nichts gewesen wäre. Am Horizont zeigen sich ganz leicht wahrnehmbar bereits die ersten Vorboten des nächsten Morgens.


Nachwort

Venet - ein Buch über eine Totenfeier eines Bergvolkes, dessen Existenz längst vergessen ist.

Vielleicht haben die Menschen dieser Geschichte einmal so oder so ähnlich gelebt. Geblieben sind von ihnen ihre Zeichen und Symbole, die sie uns in unseren bayerischen Bergen und an wunderschönen, vielleicht für sie sogar magischen Orten im Fels hinterlassen haben.

Einige dieser Felsenbilder wurden auf die Textseiten übertragen und mit modernen Zeichen vermischt. Die Geschichte ist Fiktion, es ist sehr fraglich, ob sie jemals in der geschilderten Form stattgefunden haben kann. Trotzdem habe ich sie mitgenommen auf meine Reise, zurück in eine längst vergangene Zeit und Kultur.


Gerd J. Wunderer