Ornament

Ornament

Ornament ist wie eine Blumenwiese. Wenn ich die Wiese oberflächlich betrachte ist sie grün, erst beim näheren Betrachten erkenne ich die Vielzahl der einzelnen Blumen und Pflanzen. Wie auf der Wiese ich vom Ganzen zum einen und wieder zurückgehen kann, so ist es auch beim Ornament möglich, völlig ungeahnte, unerwartete Entdeckungen zu machen.

 
Dieses Betrachten, aber auch das künstlerische Schaffen selbst, gibt dem Ornament eine erstaunliche Möglichkeit, bis in unseren Geist zu wirken. Gerade die Religionen habe diese Kraft des Ornaments schon früh erkannt und für sich nutzbringend eingesetzt. Man denke nur an die Ausschmückung der Gebetsräume oder bei der Initiation von Menschen in ihr religiöses Umfeld. Dieser Kraft kann ich mich nicht entziehen, wenn ich kunstvoll ausgeschmückte heilige Räume betrete oder ebensolche Bücher betrachte. Noch tiefer erlebe ich Ornament, wenn ich es selber gestalte. Die schöpferische Kraft, die allen Menschen innewohnt, entfaltet sich dann durch mich im hier und jetzt. Das jedem Menschen innewohnende Göttliche bringt sich darin zur Entfaltung.


Gerade im religiösen Bereich erhält das Ornament eine besondere Tiefe. Das Ornament transformiert religiöse Aussagen, macht diese auf einer anderen Ebene mystisch erfahrbarer, als es Worten überhaupt können. Das Verstehen eines Ornamentes erfolgt nicht über den Intellekt, sondern über die Emotionen. Leider sind wir in dieser Betrachtungsweise nicht mehr so geübt wie noch Generationen vor uns. Aber wir können uns wieder einlassen auf das Abenteuer des Schauens. Wir können das Ornament genießen lernen, wie wir ein Musikstück oder ein Essen genießen, obwohl wir weder Noten noch das Rezept der Speise kennen. Wir können den Hauptlinien folgen, erkennen die fein ausgearbeiteten Linien, oft gelangen wir so zu einer besonderen Tiefe des vorliegenden Ornaments. Langsam erschließt sich uns das Ornament in seiner ganzen Fülle. Wir sind dabei seine Schönheit und seine innere Bedeutung zu entdecken.

Die Trennung von Ornament und Bild ist in der Vergangenheit nicht so streng gesehen worden, wie das heute üblich ist. Da wurden bildliche Darstellungen mit Ornamenten versehen, gegenständliche Skulpturen mit Ornamenten geschmückt und somit eine tiefgehende Veränderung des Dargestellten erreicht.
 
Seit es Menschen gibt, kann man sagen, existiert auch das Ornament. Ausgehend von einfachen Strichornamenten hat es eine Entwicklung durch die Menschheitsgeschichte gemacht, die erst Anfang des 20. Jahrhunderts in der westlichen Hemisphäre unseres Kulturkreises jäh gebremst wurde. Adolf Loos war eine Schlüsselfigur mit seinem Buch "Ornament und Verbrechen", mit dem er um 1908 das Ende des Ornaments proklamierte. Der tiefe Sinn des Ornaments war vergessen. Man kann sagen es wurde versucht das Ornament aus der Kunst zu eliminieren. In anderen Kulturbereichen hat, es bestand bis auf den heutigen Tag. Im Islam greift die Idee des Ornaments nicht nur in der bildenden Kunst, sie erstreckt sich ebenso auf die Musik, wie auch auf die Dichtung. Die Muslime sehen im Entstehen des Ornaments nicht den Menschen als Handelnden, sondern Gott, in gewisser Weise eine mystische Vorstellung oder Erfahrung.
 
Diese Ächtung des Ornaments in unserem Kulturkreis ist vergleichbar mit einer Zensur, mit einem Diktat, dem sich viele unterworfen haben. Mit ursächlich war sicher auch die immense Arbeit, die in einem Ornament verborgen liegt, die mit zunehmender Industrialisierung immer mehr, unbezahlbar wurde.

Erst seit der frühen Mitte des 20. Jahrhunderts erlebt nun das Ornament auch in unserem Kulturkreis eine Wiederentdeckung. Hier war es vor allem Matisse der eine neue Formensprache in das moderne Ornamentverständnis eingebracht hat.

Was wohl die meisten zeitgenössischen Künstler beim Ornament übersehen, ist die Tatsache, dass das Ornament eigentlich die erste Abstraktion in der Kunst ist. Nicht beachtet wird der Gedanke, dass das Ornament auch die Freiheit der Fantasie verkörpert und das freie Spiel der Vorstellung beinhaltet. Ausgehend von verschiedenen Grundformen sehe ich das Ornament aufgespalten in zwei Richtungen. Da ist zum einen die Richtung der regelmäßigen Flächenaufteilung, die sich weitgehend eigenständig entwickelt hat, bis hin in unsere Tage. Die zweite Richtung, die der unregelmäßigen Flächenaufteilung verlief weniger spektakulär, ist aber bis heute immer wieder vereinzelt zu finden.
 
In meiner künstlerischen Arbeit ist diese Richtung der unregelmäßigen Flächenaufteilung eine Richtung, die mich schon seit jeher fasziniert hat. Diese unregelmäßige Flächenaufteilung konnte ich bereits bei sehr alten Ornamenten finden. Ich habe diese Idee für mich aufgegriffen und künstlerisch weiterentwickelt. So entstanden bereits einige Bücher von mir, die diese Idee mitberücksichtigen.
 
Für mein künstlerisches Verständnis hat Ornament und Kunst nichts mit Perfektion zu tun, dieser Begriff steht für mich im Zusammenhang mit der Maschine. Mit Maschinen brauchen wir uns nicht vergleichen, nicht messen, sie haben keine Seele, die in ihren Arbeiten zum Ausdruck kommt.
 
Ornament ist nicht abhängig von Wiederholung, sondern von dem Wunsch, eine innere Tiefe sichtbar und erlebbar zu machen. So ist es diese Tiefe wohl gewesen, die Kelten wie Chinesen in der gleichen Epoche begeistert hat. Sie haben unabhängig voneinander die gleichen spiralförmigen Ornamente in ihrer Kultur genutzt.

Für heutige Künstler, die sich auf das Abenteuer Ornament einlassen, gilt es ihren ureigenen Weg zum und im Ornament zu finden. Ornament ist in gewisser Form auch eine Beschränkung, und Beschränkung kann mehr sein, wenn man es versteht, innerhalb der Grenzen des abgesteckten Rahmens das maximal mögliche zu erzielen.
 
Einen weiteren Gedanken zum Ornament zum Schluss. Ornament gibt es überall wo Menschen leben. Eine Gemeinsamkeit also, die uns alle verbindet. Vielleicht könnten wir über das, was uns verbindet unseren Frieden untereinander finden. Ornament leistet bereits in der Vergangenheit, aber auch heute künstlerisch eine Brückenfunktion zwischen den Kulturen. Deutlich wird dies zum Beispiel an der Weinblattarabeske. Sie wurden in der Vergangenheit im euroasiatischen Raum kulturübergreifend von den verschiedensten Kulturen, entsprechend verändert, übernommen.
 
Über die Computer unserer Zeit hält das Ornament inzwischen wieder Einzug in den verschiedensten Bereichen der Kunst. Es bleibt also interessant, die weitere Entwicklung des Ornaments im Auge zu behalten.

G.J.W.