Wolkenkuckucksheim

Wolkenkuckucksheim

 

Die handbeschriebene Geschichte meines Buches "Nephelokokkygia - Wolkenkuckucksheim" greift die Idee der Griechen auf, dass sich irgendwo in den Lüften eine Stadt der Vögel befindet, zu der sie in der kalten Jahreszeit zurückkehren. Die Geschichten, die sie dort erleben, sind der Inhalt des Buches.

Wolkenkuckucksheim

Die handbeschriebene Geschichte meines Buches "Nephelokokkygia - Wolkenkuckucksheim" greift die Idee der Griechen auf, dass sich irgendwo in den Lüften eine Stadt der Vögel befindet, zu der sie in der kalten Jahreszeit zurückkehren. Die Geschichten, die sie dort erleben, sind der Inhalt des Buches. Tief unten, wo nasses, blaugraues Pflaster die schwach im Wind pendelnde Lampe spiegelt, ist nichts von dem wahrnehmbar, was sich in dem dunkelbraunen, fast schwarzen Haus im Dachboden gerade ereignet.

Ein schwarzer Vogel fliegt aufgeschreckt durch die Nacht. Eine Türe öffnet sich in der Ferne. Eilige Schritte sind wahrnehmbar. Dann wieder diese beklemmende Stille, diese fürchterliche Grabesstille.

Wie Tränen legen sich Regentropfen für Regentropfen über das Dachfenster. Über die verschiedenen Dachformen zeichnet sich das Ende der Stadt weit hinten am Horizont ab.

Feuchte Luft strömt durch den kleinen Dachboden. Nach und nach gerinnen die Tropfen und verändern sich zu kleinen Rinnsalen, die schnell nach unten streben.

Der Wind nimmt zu, der Regen peitscht gegen die Scheibe, das Licht der Straßenbeleuchtung verschwimmt zu abstrakten Schlieren, die unaufhörlich über das Fenster ziehen. Diffuses Licht dringt von der Straße in die dunkle Kammer, ein Kind schreit kurz auf, dann hört man nur die hellen Töne der auf die Dachplatten fallenden Regentropfen. Hinten im Winkel zeichnet sich eine weiche, geschwungene Form ab. Die Decke verhüllt, was sich darunter verbirgt. Der Boden knarzt, jeder Schritt, der den fahlen Raum durchmisst, hinterlässt eine ächzende Lautmalerei. Zögernd, abwartend, tastend zeichnet sich der dunkle Schatten verzerrt an den Dachplatten ab. Eine kurze, aber heftige Windböe schlägt das alles verbergende Tuch zurück. Plötzlich wird der Blick frei auf den Totenschädel einer mumifizierten Leiche.

* * *

Die glänzende Glasfassade erschien luftig leicht, durchsichtig hell. Die Hektik in den Geschäftsräumen wurde von außen sichtbar, wurde nach außen getragen. Sichtbar wurde da die Hetze des Alltags, die kraftlos macht, die verwundet. Sichtbar wurde die volle Härte des Lebens. Sobald das letzte Licht ausgeht in den Räumen des Glanzes, sobald Nacht und Dunkelheit die Gänge entlang schleicht, gibt die Fassade die andere Seite der Straße wieder. In der dunkelschwarz glänzenden Glasfassade des Geldes spiegeln sich dann die matten grauen Häuserfronten der gegenüberliegenden Arbeitersiedlungen mit ein, zwei und drei Hinterhöfen hinter jeder Häuserfront. Spiegeln sich mit all dem Leid der Arbeit und der Arbeitslosigkeit.

Die Herren sehen es nicht, denn nun wohnen sie in den noblen Vororten der Stadt, geschützt von Videokameras und Bewegungsmeldern. Es lebt sich dort einfach besser als hier in der Stadt mit dem Gewerbegebiet, mit dem stinkenden Müll und den lauten Kindern.

* * *

Wie eine schwarze Masse quoll der Zug durch die engen Gassen der Altstadt. Voran das Rauchfass, das unablässig von einem Ende zum Anderen schwang und hellen Rauch ausstieß.

Die ganze Straße entlang zog eine weiß bläuliche Nebelwand, die sich schwer in den dunklen Gemäuern, den schwarzen Löchern von Eingängen festsetzte, - dort hängen blieb.

Schritt für Schritt näherte sich diese finstere Wand. Fahnen wurden hochgehalten, ein Baldachin wurde sichtbar, Fackelträger trugen Teerfackeln brennend bei sich, unverständlich gemurmelte Gebete und ein heller Singsang wurden hörbar. Drei Böllerschüsse ließen den wankenden Zug für einen Moment gefrieren, regungslos blieben alle stehen. Erst nach wenigen Augenblicken setzte sich der Zug wieder langsam in Bewegung, ging wortlos weiter, kam vorbei.

* * *

Die große Kirche war fast völlig dunkel, vorne am Altar huschte etwas aufgeregt hin und her. Die Orgel begann mit einem Male ein seltsames, neues, disharmonisches, unter die Haut gehendes Lied zu spielen. Die
tiefe Stimme, der Klang des herrschaftlichen Instruments füllte die ganze Kirchenhalle mit ihren gewaltigen Tonkaskaden.

Unaufhörlich spielte die Orgel ihr Lied, das noch keiner zuvor vernommen hatte. An der Säule des Mittelganges zeichnete sich, immer stärker werdend, ein blutrotes Band an die Wand. Ein kleines Fenster
hoch oben am Chor zeigte, dass draußen sich das Wetter geändert hatte. Der Kirchenraum wurde wieder still wie vorher. Kein Laut war zu vernehmen, nur kurze, schrille Schreie eines Vogels, belebten diesen toten Ort.

* * *

Der Tod, der große Meister hielt wieder Einzug ins Viertel unten am Fluss, unten neben der Steinbrücke mit ihren gewaltigen Bögen. Erbarmungslos kommt der Gevadder in die baufälligen Häuser, die seinen Besuch bereits
unzählige Male erlebt haben. Für sie ist er ein alter Bekannter, schon so lange sie stehen. Er betritt unhörbar die Räume und alle wissen, er ist wieder zu Gast heute Nacht.

Der Modergeruch wirkt eine Spur intensiver als sonst, es ist kalt und feucht, es wird nicht mehr lange dauern, dann hat die Pein ein End. Er steht schon neben dem Lager, ich seh ihn schon, und wenn die Zeit gekommen
ist, dann greift er zu, nimmt sich, was seines ist und verlässt die Stätte der Armut, so wie er gekommen ist. Leise - unhörbar.

* * *

Das Fest war voll im Gange. Der Saal übervoll, mit bunten Girlanden geschmückt, überall, wohin man blickte, war ein Treiben im Rund. Ausgelassenheit und Lust lagen in der Luft, durchzogen den grauen Saal mit seinen dunklen
Gewölben. Kerzenlicht erhellte den großen Raum nur spärlich, die Dunkelheit verschluckte das Licht. Die Schatten tanzten, als hätten sie Eigenleben, an den Wänden, spiegelten von der Freude wider, deren traurige Schwestern
sie waren. Der Schatten lag an der Wand, spielte alles mit, doch war er fahl und farblos, ließ nur noch ein Schwarz und Weiß zu. Der Duft des Bratens verwandelte sich in den süßlichen Geruch von Verwesung und Tod.

* * *

Vor der unendlich hoch erscheinenden Säulenhalle wirkte der in prächtigem Federkleid stolzierende Herrscher Spielzeughaft klein, seine Größe wirkte lächerlich im Verhältnis zur Größe der monumentalen Säulen des
monotonen Bauwerks. Ein bunter Farbklecks war er, der in gespielter Leichtigkeit über den roten Marmorboden tänzelte, und der doch plump und würdelos wirkte. Lediglich der Federmantel war es, der ihn von den anderen unterschied.
Aber keiner wollte es wahrhaben und so lebte er bereits die ganze Zeit wie eine Made im Speck.

* * *

Auf dem weiten Platz vor der großen frei tragenden Halle war Ruhe eingekehrt. Es lag ein Gefühl prickelnder Spannung in der Luft, der sich keiner entziehen konnte. Holzstäbe, gekonnt mit Schwung geworfen, fielen
auf das schwarzgraue Granitpflaster. Der Wurf, das zufällig entstandene Gewirr der Stäbe, zeigte allen, es war wieder so weit. Jeder, der die Hölzer zu lesen verstand, wusste, einer von ihnen wird nun wieder
dem alten Ritus folgen, um alle zu erretten.

Der leuchtend rote Stab wurde ausgewählt. Wie auf ein Zeichen hin begannen sich die langen Reihen zu bewegen, alle schlurften unaufhaltsam, so schien es, - auf das Zentrum zu. Dort erfolgte die Übergabe des roten
Holzes.

Wie ein Mahlstrom drängte sich der Zug durch die Straßen, hinaus, dem Richtplatz zu. Er war oberhalb der Stadt auf einem Hügel, von dem aus alle Häuser in ihrer vollen Schönheit zu überblicken waren.

Als die Prozession beim großen Scheiterhaufen angekommen war, hatte der Mummenschanz mit einem Mal ein Ende. Alle warteten indessen gespannt, ob es so weiter gehen würde, wie sie es bisher gewohnt waren. Jeder war tief berührt,
keiner konnte sich der Situation entziehen.

Oben angekommen, schaute der Auserwählte noch ein letztes Mal in die Runde, dabei hielt er den roten Stab ruhig in seiner Hand. Er blickte hinüber zu den hellen Wehrtürmen, zum Tempel und hinunter zum Hafen mit seinen bunten
Schiffen. Dann zerbrach er den Stab.

Das war das Zeichen, er sei bereit. In Windeseile entfachte sich ein großes Feuer, hoch loderten die Flammen empor. Ein einziger lauter Aufschrei hallte über den Platz, drunten erhoben sich schwarze Vögel von den hohen Dächern und verschwanden in der dunklen Rauchwolke, die weithin sichtbar war. Es war ein einzigartiges Schauspiel am Firmament.

Jeder wusste, jetzt kann nichts mehr passieren, jetzt kann das Leben wieder von vorne beginnen, für alle. Wie gebannt blickten sie noch einige Zeit auf die lodernden Flammen, dann wendeten sich immer mehr von ihnen ab und gingen
schweigend den Hügel hinunter.

Er hat uns gerettet, sagten sie und neue Zuversicht machte sich breit.

* * *

Der Putz bröckelte hinter ihm, Salpetersalze blühten aus den roten Tonziegeln, es roch nach Moder und er saß da, wortlos, blickte nicht auf, sondern dachte nur daran, was ihm eine Wahrsagerin damals vor dem Krieg gesagt hatte. Was
für ein Leben hatte sie ihm prophezeit, ein Leben voll von Glück, Reichtum und vielen Kindern.

Dann kam der Angriff, er hört noch immer das hohe Surren in der Luft, dann der Feuerblitz, der Knall, der Rauch und der Dreck, und nichts mehr war wie früher. Sie hatten ihn gerettet, wo er am liebsten verreckt wäre. Sie waren
erbarmungslos zu ihm.

Sein Rollbrett brachte er jeden Tag hier vor dem Abbruchhaus in Position, nur um mit den Almosen das geschenkte Leben zu fristen, zu vegetieren. Leben war es nicht zu nennen.

Ein paar Ecken weiter waren die mit den bunten Federn an ihren Mützen, waren die, die in ihren Uniformen so gerne laut schrien. Keiner von ihnen wollte mehr etwas mit ihm, dem alten Kämpfer zu tun haben.

Er war überflüssig geworden, er war aus einer Zeit, die keiner mehr wahrhaben wollte, eine Zeit aber, die wiederkommen könnte. Jetzt, da es sich wieder leben ließ, - in der Stadt mit all ihren farbigen Viadukten, mit ihren lebendigen Plätzen und
viel befahrenen Straßen passte er nicht mehr dazu. Jetzt wo der Aalstrich der Vernichtung, der sich durch die Häuser gebahnt hatte, endlich unter vielen Mühen und Anstrengungen beseitigt
worden war, war der Krüppel nur noch ein unliebsamer Mahner mit seinen beiden Beinstümpfen. Jetzt, wo alles vergessen schien, wo alles wieder aufblühte, erinnert er immer noch an Leid
und Tod -, so -, wie er da erbärmlich saß.

Er hört noch die Kanonen, den Donner, die Schreie, den Gestank, er hat den Krieg im Kopf, er kann ihn nicht vergessen. Der Krieg hat sich in seine Seele eingebrannt -, ihn nicht nur
körperlich verwundet.

Er kann sein Jammertal nicht verlassen, er ist ein Gefangener seiner selbst.

* * *

Die Holzbretter zogen sich die eine Seite der Straße entlang, unendlich weit den Berg hinunter. Hinter dem hohen Bretterzaun, undurchlässig wie ein riesiges Waschzuber, war nichts zu erkennen, keine Spur von Leben. Offene dunkle Löcher waren
die Fensterhöhlen der alten verwitterten Backsteinbauten. Erst eine Straße weiter hinten war auch jenseits dieses langen Zaunes Leben zu vernehmen, aber alles sonderbar gedämpft. Hier wohnten die, die nicht mehr in der neuen Stadt geduldet wurden,
hier wohnten die  für die das Leben keinen Platz mehr hatte.

Durch ein Astloch fiel der Blick auf eine karge ehemalige Parkfläche, wo ein altes hageres Krümperpferd seinen Austrag hatte. Welcher Großmut von denen, die selbst nichts hatten, nichts waren.

In den Augen der Anderen waren sie nur Schmarotzer, vielen waren sie ein Dorn im Auge.

Das Ausmaß des Ghettos sah man erst, wenn man den seichten Hügel erklomm. Von hier oben sah man das Blinken und das Licht auf der einen und das Dunkel mit dem süßlichen an Leichenfledderer erinnernden Geruch von totem Leben auf der anderen
Seite. Die Stadt zeigt hier ihr wahres Gesicht, sie ist ein Wechselbalg ihrer Geschichte.

* * *

Draußen vor der Stadt, gleich neben der Eisenbrücke, liegt der Friedhof. Bäume wachsen aus den Gräbern, er ist schon lange nicht mehr benutzt worden. Das schmiedeeiserne Tor quietscht leise beim Öffnen. Es fühlt sich warm an, die Sonne gibt
diesem Ort die Illusion von lebendiger Wärme und doch ist alles kalt und still. Nur hinten an der letzten Gräberreihe ist der dumpfe Klang von Erde zu hören, die locker auf einen Hügel fällt. Die Erde gibt einen Leib wieder frei.
Dunkel, schwarz, dreckverschmiert, eingefallen beginnt er sich abzuzeichnen, immer deutlicher. Ein Falter fliegt vorbei, Bienen summen, der Flügelschlag eines Vogels ist zu hören, danach ist Stille.

* * *

Er blickte sich unvermittelt um und beginnt, etwas unruhig zu werden. Jetzt war es wieder so weit, wie all die Zeit vorher dreht, er mit gemächlichen Schritten noch eine letzte Runde auf dem mit wunderschönen alten Häusern umbauten Marktplatz, er blickt ein
letztes Mal auf die bunten Sonnenschirme, auf den alten Steinfußboden, er trippelt kurz und schwingt sich dann in die Lüfte, er zieht einen letzten Kreis über der Stadt, um sich dann mit all den
andern Vögeln aufzumachen, um wieder zurück zur Erde zu fliegen, wo sich das Frühjahr bereits anschickte, Einzug zu halten.

* * *
Gerd J. Wunderer